Das Mädchen, das eine Schlange heiratete

In einem kleinen Dorf lebte einst ein Brahmane mit seiner Frau. Das Ehepaar war traurig, weil es keine Kinder hatte. Jeden Tag brachten sie Opfer dar und beteten zu Gott, damit Er sie mit einem Kind segne.
Schliesslich bekam die Frau ein Baby. Aber ach, das Baby war eine Schlange! Das Ehepaar erschrak darüber sehr, und alle Freunde und Verwandten rieten ihnen, die Schlange so schnell wie möglich loszuwerden. Die Frau wollte ihnen jedoch nicht zuhören. Sie liebte die Schlange als ihren Sohn und tat ihm niemals etwas zuleide. Mit viel Liebe und Zuneigung sorgte sie für ihr Kind. Jeden Tag badete sie ihn sorgfältig und fütterte ihn mit der besten Nahrung, die sie finden konnte. Sie machte ihm ein weiches Bett und liess ihn darauf in einer schöner Schachtel schlafen. So wuchs der Schlangensohn heran, und auch die Liebe seiner Mutter zu ihm wuchs ständig.
Als in der Nachbarschaft eine Hochzeit stattfand, dachte sie daran, auch ihren Sohn zu verheiraten. Wie aber konnte sie eine Braut für die Schlange finden? Wie dem auch sei, sie gab die Hoffnung nicht auf. Sie dachte immer wieder darüber nach, wie ein Mädchen gefunden werden könnte, das ihren Sohn heiraten würde.
Eines Tages, als der Brahmane nach Hause kam, fand er seine Frau in Tränen vor. "Warum weinst du?" Die Frau antwortete nicht, sondern weinte noch heftiger. "Sag mir, was dir fehlt!", bat der Brahmane. Doch sie schluchzte weiter. Der Brahmane stand hilflos neben ihr und wusste nicht, was er tun sollte. "Ich weiss, dass du unseren Sohn nicht magst", sagte sie schliesslich. "Du bist nicht an ihm interessiert. Er ist nun schon erwachsen, und du hast noch nicht einmal daran gedacht, ihm eine Braut zu suchen."
"Eine Braut? Für unseren Sohn?", fragte der Brahmane erstaunt. "Glaubst du, dass jemand seine Tochter mit einer Schlange verheiraten wird?" Die Frau antwortete nicht, sondern weinte so heftig, dass der Brahmane den Entschluss fasste, sich auf die Suche nach einer geeigneten Braut für seinen Sohn zu gebeben. Er reiste überall umher, aber konnte kein Mädchen finden, das bereit war, eine Schlange zu heiraten.

Schliesslich kam er in eine grosse Stadt, in der einer seiner besten Freunde lebte. Der Brahmane hatte ihn seit langem nicht gesehen, und so stattete er ihm einen Besuch ab. Sein Freund war sehr froh, ihn wiederzusehen, und deshalb verbrachten sie viel Zeit zusammen. Als der Brahmane sich wieder auf den Weg machen wollte, fragte ihn sein Freund, warum er denn eigentlich im ganzen Land umherreise. "Ich bin auf der Suche nach einer Braut für meinen Sohn", verriet ihm der Brahmane.
"Warum hast du das nicht früher gesagt?" erwiderte sein Freund. "Du brauchst nicht weiterzusuchen. Ich habe eine Tochter, die sehr schön ist. Hiermit gebe ich sie deinem Sohn zur Frau." Der Brahmane war überrascht und sagte: "Ich denke, es wäre besser, wenn du meinen Sohn sehen würdest, bevor du dich entscheidest." "Nein, nein.",sagte der Freund. "Das ist nicht nötig. Ich kenne dich und deine Frau; das reicht. Lass uns keine Zeit mehr vergeuden! Meine Tochter geht mit dir. Verheirate sie mit deinem Sohn"
Der Brahmane war besorgt. Zugleich aber auch glücklich, dass er eine Ehefrau für seinen Sohn gefunden hatte. Die Mutter war ebenfalls überglücklich, dass ihr Sohn nun endlich heiraten konnte. Sie fing sogleich an, Vorbereitungen für die Hochzeit zu treffen. Als jedoch die Einwohner des Dorfes von dem Plan hörten, gingen sie zu dem Mädchen und rieten ihr, die Schlange nicht zu heiraten. Doch das Mädchen wollte nicht hören. "Mein Vater versprach dem Brahmanen, dass ich seinen Sohn heiraten würde", sagte sie, "und ich werde als Tochter niemals etwas gegen seinen Willen tun. Wenn der Sohn des Brahmanen eine Schlange ist, dann werde ich eben eine Schlange heiraten."
Am darauffolgenden Tag fand die Hochzeit zwischen dem Mädchen und dem Schlangensohn statt. Danach lebten beide zusammen im Hause des Brahmanen. Das Mädchen war ihrem Ehemann sehr ergeben und tat alles für ihn. Doch nachts schlief die Schlange immer noch in ihrer Schachtel.
Eines Nachts jedoch, als das Mädchen sich schlafen legen wollte, fand es ein hübschen jungen Mann im Schlafzimmer vor. Es wusste nicht wer er war und wollte vor Schreck fortlaufen. Aber der junge Mann sagte: "Lauf nicht davon, meine Liebste, ich bin dein Ehemann! Kennst du mich nicht?" Das Mädchen glaubte ihm nicht. Um ihr zu beweisen, dass er tatsächlich der Ehemann war, verwandelte er sich flugs wieder in eine Schlange und danach zurück in einen jungen Mann. Als das Mädchen dies sah, war es so froh, dass es ihm zu Füssen fiel. Jede Nacht, wenn alle schliefen, verwandelte sich die Schlange in einen jungen Mann und verbrachte die Zeit bis zum Tagesanbruch mit seiner Frau. Dann wurde der junge Mann wieder zur Schlange. So geschah es für lange Zeit.
Eines Nachts der Brahmane Stimmen aus dem Zimmer seines Sohnes dringen. Er schaute druch das Fenster und sah, dass sein Sohn sich von einer Schlange in einen jungen Mann verwandelte. Sofort stürzte er ins Zimmer, nahm die Schlangenhaut und warf sie ins Feuer, wo sie zu Asche verbrannte. Der junge Mann umarmte seinen Vater. "Vielen Dank, Vater. Aufgrund eines Fluches musste ich im Körper einer Schlange ausharren, bis jemand den Schlangenkörper zerstören würde, ohne dass ich ihn darum bäte. Nun bin ich endlich von dem Fluch befreit." Und der Sohn wurde nie wieder zur Schlange. Der Brahmane, seine Frau, der Sohn und die Schwiegertochter lebten seitdem glücklich und in Frieden.

Moral
Die Liebe einer Mutter, die Gehorsamkeit einer Tochter und die Treue und Keuschheit einer Ehefrau haben einen sehr grossen Wert in einer guten Gesellschaft. Diese drei Eigenschaften verleihen einer Frau Schönheit, Macht und Ruhm. Wer wird solch eine Frau nicht respektieren? In der Tat, ihr Ruhm ist grenzenlos.